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Ich bin Einzelkind. Das heißt, keine Geschwister als Beschäftigungstherapie.

Wenn die Eltern also nicht die Möglichkeit haben, den heißgeliebten sowie nervtötenden Filius abzuschieben, muss beim Kinde die Fähigkeit wachsen, sich selbst zu beschäftigen.

Mein Leben bestand daher schon sehr früh aus allerhand Dingen, die sowohl die Fantasie anregen, als sich auch hervorragend eignen, um damit allein viel Zeit zu verbringen. In meinem Kopf bildeten sich also mit der Zeit ganze Parallelwelten, was so mancher als Zeichen frühkindlicher Schizophrenie deuten mag. Denn je mehr ich mich mit diesen Gedankengebilden auseinandersetzte, desto mehr wuchs der Realitätsgehalt für mich.

Ich gebe zu: Mein kleinkindliches Moralbewusstsein war noch eher im Anfangsstadium. Demnach war die Tatsache, dass Lügen nicht zum Standardrepertoire einer jeden Unterhaltung dazu gehört, bei mir noch nicht übermäßig präsent. Erschwerend kam hinzu, dass Kinder um die fünf noch an chronischer Gutgläubigkeit leiden – was meinen düsteren Plänen in die Hände spielte.

Ich begann also, regelmäßig den fleißigen Geschichtenerzähler zu mimen – doch es waren nicht irgendwelche Geschichten. Nein! Selbstverständlich berichtete ich von meinen eigenen heroischen Abenteuern, die ich zusammen mit „Jippie Kürbis“ (damals noch muttersprachlich sicher „Kirbis“ ausgesprochen) erlebte. Der gute Kürbiskopf war in Wirklichkeit ein kleines Plastikspielzeug aus einem Ü-Ei, dessen Körper abseits des orangenen Hauptes aus ätherischer Geisterhaftigkeit bestand. Ein kleines Halloween-Dingens also. Ich frage mich, ob der Schöpfer dieser grauenhaften Gestalt sich je erträumt hat, dass eines Tages daraus der strahlende Held unzähliger Abenteuer wird.

Wie bereits erwähnt, hielt ich es nicht so mit der Wahrheit. Das tat ich dafür aber mit einer derartigen Konsequenz, dass ich mit der Zeit anfing, den selbst verzapften Unsinn ernsthaft zu glauben. Und mit meiner Überzeugung wuchs die Begeisterung der Massen (etwa vier Kindergartenkinder). Tag um Tag hingen sie an meinen Lippen, um von den neuen Geschehnissen zu erfahren, die sich des nachts bei mir ergeben hatten. Denn der gute Jippie Kürbis neigte dazu, mich nach Schlafenszeit fliegend vom Fenster abzuholen und ohne weitere Hintergedanken in diverse Welten zu entführen.

Meinem Einfallsreichtum zuträglich war sicherlich auch die Tatsache, dass ich fleißig Material bei meinem Vater abkupfern konnte. Denn der erbarmte sich nach einem langen Arbeitstag (jeden Tag!), mir noch eine selbsterfundene Geschichte zu erzählen. Da ich inzwischen unter die Kleinkünstler gegangen war, stieg selbstverständlich der Anspruch. Wer nämlich glaubt, dass ich mit dreist geklauten Buchadaptionen zufrieden gewesen wäre, irrt gewaltig.

Über die Jahre – denn mein bemitleidenswerter Vater durfte diese Qual für lange, lange Zeit mitmachen – ergab sich eine zusammenhängende und aufeinander aufbauende Serie mit festem und wechselndem Cast, Cliffhangern (die mit liebevoll unzufriedenem Brüllen kommentiert wurden) und dramatischen Plottwists. Die Hauptdarsteller bestanden aus mir, meinen besten Freunden und der aktuellen Topbrigade meiner Kuscheltierarmee. Da, wie ich meist Jahre später erfuhr, die Verzweiflung meinen Erzeuger doch das ein oder andere Mal dazu trieb, am Vorabend geschaute Filme geschickt in das Märchengeflecht einzubauen, hatten die Geschichten meist eine hohe dramaturgische Wertigkeit. Star Wars, der Pate, Herr der Ringe? Alles längst gehört.

Dem aufmerksamen Leser mag sicherlich aufgefallen sein, dass ich ein anstrengendes Kind war. Ja, wenn ich eines Tages die Möglichkeit entdecke, in der Zeit zurück zu reisen, werde ich meinem kleinen Ich erst einmal zünftig die Leviten lesen. Wenn er sich nicht irgendwie aus der Sache herauslügt … Aber eines hatte das ganze Theater gut: Es legte schon früh den Grundstein dafür, dass für mich die Tätigkeit als Geschichtenerzähler zu einem der elementarsten Bausteine meines Lebens geworden ist. Danke Papa, danke Jippie Kirbis.